Am Tag des Amoklaufs im Olympia-Einkaufszentrum habe ich in München ein erstklassiges Kommunikationsmanagement der Polizei erlebt – und einen journalistischen Offenbarungseid der ARD. (Redaktionismus 2)
Gestern, als ich auf dem Heimweg war, sind ein paar hundert Meter entfernt 9 Menschen gestorben. Sie wurden von einem jungen Mann erschossen, der sich wenig später selbst tötete.
Die Angehörigen trauern, vielleicht kämpfen Verletzte noch um ihr Leben. – Ist es angemessen, sich in diesen Stunden schon über die professionelle Sicht auf die Kommunikation der gestrigen Ereignisse zu streiten? Über die Frage, ob Journalisten ihren Job gut gemacht haben und und wie die Informationsarbeit der Polizei zu bewerten ist?
Ich nehme mir die Freiheit, weil mich diese Fragen nicht loslassen. Weil mich gestern nicht nur das Geschehen um mich herum in München aufgewühlt hat, sondern auch das, was medial passierte. Und weil ich nicht unterdrücken möchte, was mich bewegt, wenn ich heute die „Haltungsnoten“-Debatten von Medienjournalisten über das Handeln ihrer Kollegen in der gestrigen Ausnahmesituation verfolge.
Ich möchte mich zu den zwei Aspekten äußern, die ich bewerten kann: einerseits zur Kommunikationsarbeit der Polizei, andererseits zum Agieren der Journalisten, deren Arbeit ich gestern wahrgenommen habe.
Die Münchner Polizei: So geht Kommunikation in der Krise
Das Urteil über die Kommunikation der Polizei fällt eindeutig aus: Sie war gut. Die Verantwortlichen sind offensichtlich auf Ausnahmesituationen vorbereitet und haben sowohl das kleine als auch das große Einmaleins der Krisenkommunikation mit beeindruckender Sicherheit angewandt. Das betrifft nicht nur den zu recht von allen Seiten gelobten Polizei-Pressesprecher Marcus da Gloria Martins. Die in jeder Situation präzise Kommunikation, wie sie auf verschiedenen Kanälen umgesetzt wurde, ist ohne ein gut funktionierendes Team nicht möglich. Zwar wurden über die Kanäle der Polizei auch Fehlinformationen wie über die wahrscheinliche Beteiligung von drei Tätern mit sogenannten „Langwaffen“ mitverbreitet, oder über die unklare Lage nach Social-Media-Meldungen über Schusswechsel an anderen Stellen in der Stadt – aber dies erfolgte im Rahmen des Krisenmanagements zur präventiven Warnung und zum Schutz von Menschenleben. Im Unterschied zu journalistischen Medien darf die Polizei das nicht nur, sondern sie muss das tun, wenn sie damit Gefahren eindämmen oder abwenden kann.
Lehrbuchreif war das kommunikative Agieren der Münchner Polizei, auch wenn man vergeblich nach Lehrbüchern suchen wird, in denen diese über mehrere Kanäle hinweg orchestrierte Art der Krisenkommunikation bereits beschrieben ist. Die akademische Welt ist nämlich deutlich langsamer in der Aneignung der aktuellen digitalen Kommunikationsmittel, die man in der erfolgreichen Krisenkommunikation zwingend einsetzen muss, als es augenscheinlich die Anwender bei der Polizei in München sind.
Die ARD: Gute Absicht – schlecht umgesetzt
Und auch die ARD ist darin nicht besonders gut – aber das ist nicht der größte Vorwurf, den ich ihr für den gestrigen Abend mache. Beginnen wir zunächst mit dem Positiven – der guten Absicht. Nach der mörderischen Attacke von Nizza und der Berichterstattung über den Militärputsch in der Türkei war es den ARD-Verantwortlichen offenkundig ein Anliegen, ihre Kompetenz bei der Informationsvermittlung auch live über eine längere Sendestrecke auszuspielen und nicht wieder ins geplante Programm zurückzufallen, wenn bei den Zuschauern noch Informationsbedarf besteht.
Die Voraussetzungen dafür waren insofern besser als bei den anderen Ereignissen, als mit dem Bayerischen Rundfunk eine ARD-Anstalt ihren Sitz in der Stadt hat, in der die Schüsse fielen. Das Bayerische Fernsehen sendete live, hatte mit ihrem Mitarbeiter Richard Gutjahr auch einen twitternden Mitarbeiter direkt am Olympia-Einkaufszentrum – jenen Mitarbeiter, der als erfahrener Blogger einer der profiliertesten Experten für den Begegnungsraum zwischen journalistischen und sozialen Medien ist, und der zufällig auch Zeuge des LKW-Anschlags von Nizza war.
Wenn es um den kritikwürdigen Teil der Umsetzung des guten Anliegens geht, will ich mich nicht mit technischen Schwierigkeiten wie nicht zustande kommenden Verbindungen, Leitungsabbrüchen oder ähnlichem beschäftigen. So etwas ist in Ausnahmesituationen, in denen die Außenreporter von wechselnden Orten mit unterschiedlich starken Funkverbindungen berichten, für mich absolut entschuldbar. Auch sekundenlang ratlos in die Kamera schauende Moderatoren, Holprigkeiten in Studio-Abläufen und ähnliche Live-Unpässlichkeiten sind aus meiner Sicht kein Makel in Situationen, in denen sich sekündlich die Nachrichtenlage und damit die nächste zu übermittelnde Information in Inhalt und Form ändern kann.
Journalistisches Komplettversagen von ARD-Spitzenjournalisten
Selbst mit Kritik an unintelligenten Fragen von ARD-Reportern („Hat München so etwas schon mal erlebt?“) will ich mich zurückhalten: Wenn eine Situation eskaliert, ist eine bestimmte Mannschaft verfügbar. Die muss sich dann bewähren – das gelingt nicht allen Journalisten und ist im Einzelfall vielleicht nicht entscheidend.
Die entscheidenden Schwächen zeigten gestern vor allem erfahrene Journalisten, zu denen die Planer und der Studio-Moderator Thomas Roth zählen. Die Planer brachten es nicht fertig, permanent ein Kamerateam mit Reporter bei der Pressestelle der Polizei zu stationieren, um bei faktischen Informationen aus erster Hand garantiert live dabei zu sein. Diese fehlenden Fakten waren der Grund dafür, dass sich der Moderator mit Experten und zugeschalteten Politikern zu Themen unterhalten musste, über die weder er noch die Experten wirklich etwas wussten. Das öffnete Vermutungen und Spekulationen Tür und Tor – dem absoluten Gegenteil von seriösem Journalismus. Leider war die ARD wegen der basislosen Studiounterhaltung dann nicht zur Stelle, als das zweite Pressebriefing durch Polizeisprecher Martins begann. Ein Makel, denn der ARD-Reporter vor Ort mit furchtlosem körperlichem Einsatz wettmachte. Er brach mit offenem Mikro in das laufende Briefinggespräch ein, stellte ein paar Fragen und verließ die Runde dann vor ihrem Ende wieder. Effekt: Die ARD-Zuschauer bekamen im Gegensatz zu Zuschauern anderer Sender nicht die komplette Information aus erster Hand.
In der Falle des eigenen Sendungsbewusstseins
Den Studio-Moderator Thomas Roth störte die unvollständige Primär-Information nicht wirklich. Er wendete sich wieder den spekulativen Erörterungen mit Studiogast und zugeschalteten Gesprächspartnern zu, in denen er vor allem eine Frage immer wieder thematisierte: „Ist der islamistische Terror nun auch in Deutschland angekommen?“ Dreimal wurde ich Zeuge dieser in verschiedenen Varianten vorgetragenen Anfrage – schon die erste Frage lag allerdings eine halbe Stunden nach der öffentlichen Erklärung des Münchner Polizeisprechers, dass es keine Hinweise auf einen islamistischen Tat-Hintergrund gebe. Warum Thomas Roth diese Information bis nach Mitternacht nicht zur Kenntnis nahm, weiß ich nicht. Dass er für mehrere Stunden einem Thema immer wieder selbst Nahrung gab, das zu dieser Zeit sowohl aus faktischen Gründen als auch zur Beruhigung hunderttausender Menschen in München und ganz Deutschland hätte abgeschlossen sein können, ist ein journalistisches Totalversagen, mit dem er – hoffentlich unbewusst – das Geschäft von Flüchtlingshetzern und Pegida-Anhängern unterstützte.
Deshalb, liebe ARD, in aller Wertschätzung: Sendet bitte ausführlich, sendet lange. Aber steigt vom hohen Ross Eures Sendungsbewusstseins und werdet Euch der veränderten Rolle bewusst, die Journalisten im Social-Media-Zeitalter spielen können und müssen. Ja, Ihr sollt einordnen, aber dazu müsst auch Ihr erstmal die Fakten kennen – und zu denen hat jetzt in vielen Fällen jeder Normalsterbliche den gleichen Zugang wie Ihr. Also legitimiert Eure Sonderrolle durch erstklassige Fakten- und Sachkenntnis, statt vor laufender Kamera den Zugang zu Fakten aus erster Hand oder sozialen Medien geringzuschätzen. Hört zu, bevor Ihr sendet! Und dann sendet mit Leuten, die den neuen Aufgaben gewachsen sind. Die sich den Herausforderungen stellen können und wollen, die mit der Digitalisierung und der Entwicklung der Social-Media-Kanäle als Parallelmedien entstehen. Investiert in Technik und Personal, um externe Social-Media-Inhalte zu verifizieren und zu integrieren. Geld genug gibt es mit dem riesigen Gebührenaufkommen. Und wenn ich einige Hörfunk- und Fernsehprogramme, und auch einige Onlineredaktionen im kaum überschaubaren ARD-Universum sehe, dann gibt es dort ein riesiges Talentpotenzial, um öffentlich-rechtlichen Journalismus nicht nur technisch ins digitale Zeitalter zu bringen, sondern auch konzeptionell und programmlich.
Und jetzt: Nicht in die öffentlich-rechtliche Wagenburg zurückziehen und dort schmollen, sondern ernsthaft an die Veränderungen trauen. Denn präzises Kommunizieren in Krisen – die Pressestelle der Münchner Polizei weiß das genau wie viele andere Kommunikationsstäbe in ganz Deutschland – kann man lernen. Ihr habt es gestern so schlecht gemacht, dass gezieltes Training sinnvoll erscheint. Aber Deutschland braucht ARD-Journalisten, die ihren Job richtig gut können. Also: Runter vom hohen Ross und üben.